Von Rechts wegen

Ein heute 14-jähriger Palästinenser musste sich vor 5 Jahren in Damaskus mit seiner Familie auf die Flucht begeben, nachdem Milizen seinen Stadtteil kontrollierten und seine Schule und das Ladengeschäft seines Vaters von Raketen zerstört worden waren. Nach einer Odyssee durch den Libanon, wo er von seinen Eltern getrennt wurde, Syrien und der Türkei erreichte er schließlich mit seiner Großmutter Ende 2015 Deutschland. Das BAMF erteilte ihm zwei Jahre später den subsidiären Schutzstatus, sein Flüchtlingsstatus, den er bereits in Syrien als staatenloser Palästinenser hatte, wurde nicht berücksichtigt.

 

Hierüber sollte nun ein deutsches Verwaltungsgericht entscheiden. Dieses geht davon aus, dass der Flüchtlingsstatus nicht bestanden hat, da der Junge in Syrien nicht in einem Flüchtlingslager lebte und keine UN-Registrierung vorliegt. Außerdem hielt das Gericht die komplette Fluchtgeschichte für erlogen, da der Junge nicht die üblichen Fluchtrouten benutze und sich außerdem nicht an Einzelheiten über die Stadt Damaskus erinnern konnte, wie etwa die Geografie der Stadt und Sehenswürdigkeiten.

 

Das Gericht hatte sich offenbar einen Katalog von ungeschriebenen Gesetzen gebastelt, nach dem Prinzip, was nicht sein darf, das nicht sein kann. Dass der Junge zum Zeitpunkt des Fluchtbeginns noch nicht einmal zehn Jahre alt war, sich nach menschlichem Ermessen also weder an der Fluchtplanung beteiligt haben wird noch großes Interesse an sog. Sehenswürdigkeiten, die ja wohl eher ausländische Touristen interessieren würden, hatte, ficht das Gericht nicht an. Die Projektion des allein reisenden, minderjährigen Taugenichts war verfestigt in diesem Juristenkopf. Auch ein mitgeführtes Dokument einer Abteilung des syrischen Innenministeriums für Flüchtlinge wird kurzerhand als vermutlich gefälscht abgetan. Der Hinweis, dass dieses Dokument vom BAMF ohne negativen Befund geprüft worden sei, führt zu der Relativierung, das Dokument möge ja echt sein, der Inhalt aber gefälscht.

 

Unsere Justiz arbeitet unabhängig, was in der Praxis scheinbar bedeutet, unbeaufsichtigt. Offenbar haben sich dadurch völlig unkontrollierte und vom persönlichen Gutdünken der Richter de facto rechtsstaatsbereinigte Räume gebildet, in denen die als Richter fungierenden Personen als Privatmenschen nach ihrem eigenen Gusto agieren und entscheiden können. Im speziellen Fall gipfelte dies in der Drohung, wenn die Klage nicht zurück gezogen werde, könne das Gericht seine Entscheidung auch so formulieren, dass das BAMF den Fall wieder aufrollen müsse und der Asylantrag abgelehnt werden könnte.

 

Die Konstruktion vom Flüchtlingskind als Sozialschmarotzer erinnert an den Fall des nepalesischen Mädchens Bivsi, deren Familie laut Leitung des Verwaltungsgerichts in Düsseldorf „getrickst, betrogen und getäuscht, den Staat jahrelang vorgeführt“ hat (zitiert nach WZ, 14.07.2018, S. 5). Die Familie lebte seit fast 20 Jahren in Deutschland, das Mädchen wurde in Deutschland geboren. Folgt man dem Verwaltungsgericht, musste nach langjährigem Verwaltungsversagen die Gerichtsbarkeit endlich reinen Tisch machen, die Familie mitsamt dem Mädchen in Sippenhaft nehmen und vollständig des Landes verweisen. Wenn die anderen Gewalten nicht funktionieren, erklärt man sich selbst für zuständig, das eherne Prinzip der Gewaltenteilung konterkariert von der eigenen Hybris.

 

Der Gerichtspräsident des Verwaltungsgerichts hat kein Verständnis dafür, dass nun Politiker diese Entscheidung relativieren und teilweise sogar rückgängig machen wollen (siehe auch WZ, s.o.) und das Mädchen, das das Heimatland seiner Eltern bis dato nie gesehen hatte, wieder einreisen lassen, damit es hier weiter zur Schule gehen kann. Es scheint für die Gerichtsbarkeit schwer zu verdauen, dass auch die demokratisch gewählten Dorfschulzen Einfluss haben, und sich selbst die Schulmeister und einfache Bürger zu Wort melden. Gerichtsvertreter haben sich scheinbar zuweilen so daran gewöhnt, dass sie immer das letzte Wort haben, dass es ihnen schwer fällt, das Prinzip der  Gewaltenteilung unvoreingenommen zu reflektieren und zu erkennen, dass diese außerhalb des eigenen Machtbereichs auch ihre Berechtigung hat und rechtsstaatlich und im Sinne der Verfassung funktionieren muss.

 

Rechnet man nun alle Faktoren der richterlichen Beurteilung des vorliegenden Falles zusammen und zieht eine Bilanz, kommt am Ende die Propaganda der Rechtspopulisten heraus. Ein Zufall ? Vor zwei Jahren waren die Gerichte noch anders gestimmt, haben aber den Wandel in Teilen der politischen Szene und der öffentlichen Meinung scheinbar ungeteilt auf das Gerichtssystem übertragen. Der Flüchtling ist vor Gericht stigmatisiert, in vorauseilendem Gehorsam ein Rechtsruck von Rechts wegen.

 

Jemand wie unser kleiner Palästinenser hat in diesem System keine Chance, die Gerichte sitzen eindeutig am längeren Hebel. Die Revision eher unwahrscheinlich, da man die Prozesskostenbeihilfe bereits im Vorhinein versagt hatte wegen der geringen Erfolgsaussicht. Diese wurde u.a. begründet mit einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts NRW vom 21.02.2017, in dem der des Massenmordes und der Kriegsverbrechen überführte Despot Assad als realistischer und rational denkender Staatsmann beschrieben wird, der dadurch beinah wie ein gütiger Landesvater erscheint und keinerlei Anlass bietet, sich vor der Rückkehr in dieses Land zu fürchten (siehe auch den Blogbeitrag vom 06.03.2018).

 

Schlechte Karten also, wenn nicht nur das politische Klima vergiftet ist  und sich immer mehr Politiker von den rechtsstaatlichen Prinzipien abwenden, sondern auch Gerichte keine Korrekturmöglichkeit mehr anbieten. Der Rechtsstaat ist aus der Mode gekommen, der Populismus greift in die staatlichen Systeme und Richter scheuen nicht davor zurück, in ihrer Unabhängigkeit ihre privaten Aversionen zum Gegenstand ihrer richterlichen Entscheidungen zu machen.

 

Vielen Flüchtlingen können wir diese Geschehnisse aber relativ einfach erklären, weil sie solche Vorgänge aus ihren Heimatländern kennen.

Frank Schöler